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Der Bogen, so hat es der in Berlin lebende Künstler im Vorfeld dieser Ausstellung selbst formuliert, »spannt sich von Dürer über Giacometti zur Gropiusstadt und zur Philharmonie von Scharoun«. Nach schwerem Gepäck aus 500 Jahren Kunst- und Architekturgeschichte sieht die Ausstellung allerdings dennoch nicht aus. Eher leichtfüßig scheinen die abstrakten Strukturen aus Aluminium und Neon, die gefalteten und mit Rasterfolie beschichteten Papier- und Fotoarbeiten sowie eine Videoinstallation ihre »Parade« absolvieren zu wollen. Gemeinsam ist allen Arbeiten eine eher kühle, unbestimmt moderne Ästhetik, die etwas rätselhaft und mehrdeutig bleibt, offensichtlich aber ähnlichen Prinzipien folgt: Das Motiv von Faltung, von mehrfacher Überlagerung und daraus resultierender Komplexität kehrt immer wieder und lässt ahnen, dass es hier um räumlich-architektonische Bezüge und Strukturen geht. Einen konkreten Hinweis auf die architektonische Thematik liefern dabei neben Fotoarbeiten über Hans Scharouns zwischen 1960 und 1963 erbauter legendärer Berliner Philharmonie das Video parade und die daraus entwickelten gleichnamigen, mit Rasterfolie bearbeiteten Fotoarbeiten, die Aufnahmen aus der Gropiusstadt in Berlin zeigen. Diese in den 1960er und 1970er Jahren als Erweiterung der Hufeisensiedlung von Bruno Taut gebaute Trabantenstadt, die schnell zu einem sozialen Brennpunkt wurde, veranschaulicht exemplarisch das Dilemma der Moderne, deren Ideale immer wieder durch falsche Umsetzung in ihr Gegenteil verkehrt wurden und damit das Projekt der Moderne insgesamt diskreditierten.
Die Beschäftigung mit den Idealen und Utopien der Moderne steht denn auch im Mittelpunkt des Werks von Albert Weis. Dabei geht es ihm aber weder um den melancholischen Blick auf die formvollendete Ästhetik berühmter Bauten der Moderne noch darum, aus der Perspektive des Nachgeborenen das Scheitern dieser Utopien kritisch darstellen zu wollen. Sein Blick richtet sich vielmehr auf Strukturen, die sich als Baukasten, als formales Skelett dieser Moderne auffassen lassen. Ein prominentes Beispiel für ein solches System ist der von Le Corbusier zwischen 1942 und 1955 entwickelte Modulor, ein Proportionssystem, das die menschliche Körpergröße mit den idealen Proportionen des Goldenen Schnitts verknüpft und somit eine Verbindung zwischen dem menschlichen Maß und einer mathematischen Ordnung herstellt. Dieses Proportionssystem des Modulors, das allen Bauten Le Corbusiers zugrunde liegt, ist der Ausgangspunkt für Albert Weis’ abstrakte Aluminiumarbeiten, die flexions – gekantete Aluminiumprofile, die in unterschiedlichen Abständen aufgesägt und zu einer kristallinen Struktur gebogen werden. Die Gesamtlänge sowie die Proportionen der Teilstücke entsprechen dabei den Maßen des Modulors. Indem Weis jedoch die Abfolge der Maße variiert, entstehen immer wieder neue, individuelle Formen, die Le Corbusiers Praxis der strikten Wiederholung des Immergleichen buchstäblich aufbrechen und konterkarieren.
Auch die Installation coupes, in der zwei identische Neonstrukturen diagonal gespiegelt ineinander verschränkt und vor zwei Spiegelwänden präsentiert werden, hat ihre Wurzeln in der Moderne. Sie bezieht sich auf die einzige abstrakte Skulptur Alberto Giacomettis von 1934, Cube, die sich ihrerseits an dem Polyeder in Albrecht Dürers gleichermaßen berühmten wie rätselhaften Kupferstich Melencolia I von 1514 orientiert, in dem die rationale Welt der Wissenschaft mit der imaginativen Sphäre der Kunst verbunden wird. Die geschlossene Körperhaftigkeit der Form bei Dürer und Giacometti wird bei Albert Weis zu einer offenen Struktur, die durch das Licht der Neonröhren gewissermaßen entmaterialisiert und durch die beiden Spiegelwände, in denen sich die Skulptur bis ins Unendliche spiegelt, in einen endlosen Raum versetzt wird. Beides, die strukturelle Offenheit ebenso wie das Motiv der Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit, verweist wiederum auf den Ausgangspunkt der Skulptur zurück – die Moderne und ihre Utopien.
Albert Weis entwirft in seinen Arbeiten komplexe, vielschichtige Bezugssysteme, in denen er die Prinzipien der Moderne – wie ideal oder rigide sie im Einzelfall auch sein mögen – untersucht, analysiert und zu neuen Arbeiten umformuliert. Die lassen die utopischen Momente der Zeit, auf die sie sich beziehen, noch spüren. Indem die Werke aber eine klare Funktion verweigern, verwandeln sie die historisch gewordene Utopie in Strukturen, die in ihrer Offenheit das ideelle Moment in abstrakter Form wieder in der Gegenwart verorten. Das Potential der Moderne wird damit für die Gegenwart fruchtbar gemacht, ohne dass deren Ideen naiv und unreflektiert übernommen würden. Ganz im Gegenteil: Weis’ Blick auf die Moderne ist nie einseitig, sodass auch deren Brüche und Unvollkommenheiten anschaulich werden. Die werden in seinen Arbeiten aber nicht als Sündenfall abqualifiziert, sondern eher als Chance begriffen. (Martina Fuchs)

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E
As the Berlin-based artist noted prior to its opening, this exhibition “traces the long path from Dürer via Giacometti to Gropiusstadt and the Berlin Philharmonic by Scharoun”. And yet the exhibition does not appear burdened by the heavy luggage of half a millennium of art and architectural history. The abstract aluminium and neon structures, the folded and screentone layered paper and photo works, and the video installation seem rather to absolve their “parade” light-footedly.
Common to all works is the rather cool, indeterminate modern aesthetic that curiously remains ambiguous while still obviously following similar principles. The “folding” motif—several overlapping layers that give rise to complexity—returns again and again, suggesting that here we are dealing with spatial and architectural references and structures. In addition to the photographic works dedicated to Hans Scharoun’s legendary Berlin Philharmonic, which was constructed from 1960 to 1963, the video parade and the like-named screentoned photos showing images of Gropiusstadt in Berlin also directly hint at the architectural theme. Gropiusstadt, the satellite city constructed by Bruno Taut during the 60s and 70s as an extension to the Horseshoe Development (“Hufeisensiedlung”), quickly lapsed into social decline after its completion, illustrating the dilemma of modernity, whose ideals are often betrayed when they are realized in an inappropriate manner, thus discrediting the project of modernity.The leitmotif of modernity’s ideals and utopias is also the focus of Albert Weis’s works. He is neither interested in the melancholic view of the immaculate aesthetics manifested in famous modern buildings, nor does he attempt to illustrate critically the failure of such utopias from the perspective of later generations. His vision is much more focused upon the structures that can be interpreted as the building blocks, the formal skeleton, of modernity. One prominent example of such a system is the Modulor developed by Le Corbusier between 1942 and 1955—a proportional system combining anthropometric scale with the ideal proportions of the Golden Ratio, thus creating a relationship between human size and mathematical order. This system of proportion—the Modulor upon which Le Corbusier based all his buildings—provided the point of departure for Albert Weis’s abstract aluminium works, the flexions: edgy aluminium shapes that have been sawn at various intervals and bent to form crystalline structures. Their total length and the proportions of their pieces correspond to the scales of the Modulor. But by varying the progression of the proportions, Weis creates ever new individual forms that both contradict and rupture the strict repetition of sameness Le Corbusier practiced.

The installation coupes - two identical neon structures, diagonally reflecting and interlocking with each other and presented in front of two wall mirrors - also has its roots in modernity. The installation alludes to Alberto Giacommetti’s only abstract sculpture of 1934, the Cube, which itself was loosely based upon the polyhedron in Albrecht Dürer’s equally famous and enigmatic copperplate engraving Melancolia I of 1514, where the rational world of science is merged with the imaginative sphere of art. The self-contained physicality of form in both Dürer’s and Giacometti’s work becomes an open structure in Weis’s work, it’s contours rendered seemingly immaterial by the light of the neon tubes and the pair of wall mirrors that reflect the sculpture endlessly, thus transporting it into infinite space. Both of these features—both the structural openness and the motif of infiniteness and boundlessness—again allude to the origins of this sculpture: modernity and its utopias. In his works Albert Weis designs complex, multifaceted referential systems with which he investigates the principles of modernity—however ideal or rigid some of those principles may be—analysing and reformulating them in new works. In them one can still sense the utopian moments of time to which they refer. And yet, by denying any clear function, they transform the now purely historical utopia into structures which, in their openness, relocate to the present that ideal moment in abstract form. And thus the potential of modernity is rendered once again productive in the present, yet without adopting its ideals naively and uncritically. Quite the reverse: Weis’s view of modernity is never one-sided, and thus its ruptures and imperfections are manifest, although, in his works, they are not disqualified as a sinful fall; rather, they are embraced as an opportunity. (Martina Fuchs)

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